Die Göttinger sind eine fantastische Spezies. Sie schauen so freundlich strahlend, tolerant und sogar liebevoll drein. Allerdings fällt mir das so richtig erst seit Samstagabend auf. Sollte es an meiner Wahrnehmung liegen?

Ich war in der Literaturherbst-Veranstaltung mit Gerald Hüther. Aber der Reihe nach.

Samstagabend

»Männer – Das schwache Geschlecht …«.  Mit ihrem kümmerlichen Y-Chromosom fehlt den Männern sozusagen ein Reserverad: ein stattliches zweites X-Chromosom (die meisten Anwesenden wie ich verfügen darüber). Spontan fallen mir eine Menge kleiner Jungs ein, weit weniger widerstandsfähig als ihre Schwestern, eine Reihe umgänglicher, kompromissbereiter Männer, die entschlossene Frauen an ihrer Seite haben.

Meine Beobachtungen sind also ganz auf der Höhe der biologischen Forschung.

Weiter so, Herr Hüther.

Das Fatale ist nun, dass die kleinen Jungs vorgeburtlich ein Testosteronbad verabreicht bekommen. Daraufhin rücken die Krachmacher-Instrumente in ihrem Seelenorchester nach vorne und übertönen die harmonischen, lieblichen Klänge. Die Jungs wollen was ganz Besonderes leisten und suchen Anerkennung, auf Deubel komm raus.

Das kann nur gut gehen, wenn die Jungs sich ganz und gar angenommen fühlen. Und: Die Mutter sollte mit dem Kind auf dem Arm aus dem Fenster gucken. Gemeinsam sollten sie die Katze betrachten (shared attention). Ganz übel ist es, wenn die Eltern sich selbst für nichts erwärmen können, etwa über ihren Chef meckern und andere herabsetzen.

Im weniger günstigen Fall benötigen die Jungs dann Ritalin, um ruhiggestellt zu werden, oder sie finden Herausforderungen, deren meisterhafte Bewältigung die Eltern nicht so recht in Entzücken versetzt: endlose Computerspiele, bei denen sie bestimmte Teile ihres Gehirns in der Tat optimal nutzen.

Bravo, ich bin doch ein Tausendsassa, habe mit unseren Kindern viele Bilderbücher beguckt und ihnen damit gewiss den Weg wer weiß wohin, mindestens aber doch zur Teamfähigkeit, geebnet.

Ich kann also die biologische Forschung zum zweiten Mal so recht von Herzen loben. Alles Weitere nehme ich Herrn Hüther, diesem sympathischen, souveränen, schlagfertigen, gewitzten Wissenschaftler, willig ab. Später höre ich, dass die Moderation KEIN bisschen abgesprochen war. Herr Hüther reagiert lieber aus dem Stegreif. Hut ab, auch vor Herrn Presting und Frau Lange, die ihn auf dem Podium flankierten und ihm Fragen stellten!

Wenn jemand wie Siegfried in Drachenblut gebadet hat, um einen Panzer zu bekommen, gibt es bekanntlich eine Stelle, auf die das Lindenblatt herabgefallen ist und die noch verletzlich ist. An dieser Stelle lässt sich ansetzen und »Begeisterung« einflößen.

FAZIT: Die Jungs brauchen Männer, die bereit sind, ihnen einladend, ermutigend und inspirierend zu begegnen. Dann finden sie die richtigen Herausforderungen.

Das war jetzt echt mutig von Herrn Hüther, weil es doch ein bisschen nach der Weihnachtsansprache früherer Bundespräsidenten klingt. Umso wunderbarer, dass das jemand sagt, der es sich leisten kann. Alle Anwesenden sind meiner Meinung.

Die Göttinger packen’s schon an.

Mittwochabend

Erste griesgrämige Göttinger haben meinen Weg gekreuzt. Was habe ich falsch verstanden? Ich werde erst am nächsten Wochenende dazu kommen, das Buch zu lesen.

Zweifel verwirren mich. Begeisterung, ist das nicht gefährlich, wenn es in andere als Herrn Hüthers Hände gerät? Wenn jemand sich dieses Verfahren zunutze macht: erst bestärken, dann infiltrieren? Begeisterung kann künstlich sein und eigenes Empfinden völlig in den Hintergrund drängen: wie bei dieser Spartanerin, die erfuhr, alle ihre Söhne seien in einer Schlacht gestorben, und die entgegnete »egal, haben wir nun gewonnen oder nicht?«.

Noch etwas gibt mir zu denken. Als Kind habe ich mich – anders als mein friedfertiger, älterer Bruder – nachweislich mit anderen Kindern geprügelt, außerdem ernsthaft erwogen, mich den Anweisungen meiner Eltern zu widersetzen. Später träumte ich vom Nobelpreis und wäre gern eine Marie Curie geworden. Ich bin wohl eine sehr männliche Frau und brauche ganz, ganz viel Halt.